Hamburger Abendblatt


20.10.2004

 

 

"Rübergemacht" - und hiergeblieben
Ziel Hamburg: Sie kamen zu Tausenden aus der DDR, als vor 15 Jahren die Mauer fiel. Was haben sie aus ihrem neuen Leben in Freiheit gemacht? Drei Schicksale . . .

Von Jana Gerlach

Hamburg - "Hamburg ist unsere Heimat", sagt Ina Zoschke (46). "Heimat ist da, wo man sich wohl fühlt, eine Existenz aufgebaut hat", ergänzt ihr Mann Rainer (47). Aber es hat gedauert, bis sie das über Hamburg sagten.

Die Zoschkes waren in der Wende-Euphorie, kurz nach dem Fall der Mauer vor 15 Jahren, mit Tausenden aus der DDR nach Hamburg gekommen. Die Reeperbahn säumten Trabis, hinter die Scheibenwischer steckten Hamburger Schokolade und Geldscheine. Die Geschäfte öffneten auch sonntags, Südfrüchte gab es zu Sonderpreisen. Das Abendblatt titelte: "Die Welle der Hilfe rollt und rollt . . ."

Aber dann kam schnell die Ernüchterung. Das Geld, um sich all die Sachen in den Schaufenstern zu kaufen, mußte erst verdient werden. Viele begannen ihr neues Leben in den Sammelunterkünften am Hafen. Deutschland war nicht gleich Deutschland. Die Ostdeutschen waren in das eigene Land immigriert. Das vertraute System, die DDR, war zusammengebrochen.

Aufbruch, Weg, Ankunft - dreimal ganz unterschiedlich. Nur: Bleiben wollen sie alle in Hamburg, die Familie Zoschke, Michael Balzer (40) und Toni Schröder (43).

"Frische Ananas für mich, Federbett und gebrauchte Comics für die Kinder", sagt Ina Zoschke - so machte sich die Familie am ersten Adventswochenende 1989 mit ihrem Trabi auf den Rückweg von Hamburg nach Greifswald. Im Gepäck der Plan: Umzug nach Hamburg, Zeit für was Neues.

Aber erst zwei Jahre später stand in der "Ostsee-Zeitung" die Annonce, die den Weg eröffnete: "Hort-Erzieherin für St. Michaelis, Hamburg, gesucht." Am 1. November 1991 war es soweit: Ina Zoschke stand mit ihren Koffern allein am Hamburger Hauptbahnhof. Ihr Mann und die Kinder blieben vorerst in Greifswald. "Wohnung, Krankenversicherung, Telefon - ich war es gewohnt, an die Hand genommen zu werden", sagt Ina Zoschke, "ich stand hier vor allem und nichts." Aber sie hat es geschafft. Am Wochenende vor Heiligabend bezog sie ihre erste Wohnung in Altona, strich abends allein die Wände. Ihr Mann kam an Heiligabend mit den Kindern - erst kurz vor Ladenschluß kauften sie einen Videorekorder und den Film "Fred Feuerstein". "Für die Kinder war es das allerschönste Weihnachten, wir waren zusammen", sagt Ina Zoschke.

Ein knappes Jahr später, im Sommer 1992, war die ganze Familie in Hamburg vereint. Zunächst arbeitete Rainer Zoschke bei Ikea. "Egal was ich gemacht habe, die Kollegen dachten: So macht man das im Osten, ich war stellvertretend für die DDR. Persönlicher Kontakt unter Kollegen fehlt mir manchmal noch heute." Erst sein nächster Chef in einem Chemie-Unternehmen in Norderstedt, in dem er noch heute arbeitet, nahm sich viel Zeit für Gespräche. "Er hat mich an die Hand genommen", sagt Zoschke.

Die Hand - sie verkörpert für das Ehepaar Verbindlichkeit, Aufmerksamkeit. Vieles davon fehlte ihnen in dem neuen Leben. "Zur Begrüßung blieb ich am Anfang häufig mit der ausgestreckten Hand stehen, die Leute sagten einfach nur ,moin'. Andere küßten mich gleich, das war mir völlig fremd", sagt Ina Zoschke. Vielleicht ist es auch die andere Jugend, die den Unterschied ausmacht: keine Joints, keine Weltreisen, mit 20 verheiratet.

Immerhin: "Wir haben inzwischen hier einen guten Freundeskreis aufgebaut, zu Beginn waren es vor allem Leute aus dem Osten", sagt Ina Zoschke. Ihre Silberhochzeit im vergangenen Jahr feierten Zoschkes mit neuen Freunden aus dem Westen und den alten aus dem Osten gemeinsam. "Das war spannend", so Rainer Zoschke. "Aber eins bleibt anders: Wir Ossis freuen uns oft mehr. Wer einmal 15 Jahre auf ein Auto gespart hat, der weiß vieles anders zu schätzen."